Wenn Bücher keine Selbstverständlichkeit sind
«Die Welt in Büchern», unser erprobtes Projekt zur Leseförderung in der Entwicklungszusammenarbeit, ging im Juni 2016 in einem weiteren Land an den Start: In Zusammenarbeit mit terre des hommes schweiz bildeten wir Mitarbeitende einer Basisorganisation in Mosambik zu Multiplikatoren aus. In Ergänzung zu bestehenden Ausbildungsangeboten für Kinder und Jugendliche sollen in der Stadt Chimoio Aktivitäten angeboten werden, die das Lesen und Schreiben auf der Basis der lokalen Erzähltradition fördern. Der weiterführende Plan sieht den Aufbau einer lokalen Buchproduktion sowie die Einrichtung einer Bibliothek vor.
Hier in Europa ist es für die meisten Menschen selbstverständlich, aus einer Vielfalt von Büchern auswählen zu können. Es gibt Förderbeiträge für das literarische Schaffen, eine immer noch lebendige Verlagslandschaft, eine kritische Rezeption und ein dichtes Netz an Bibliotheken und Buchhandlungen. Das ist bei weitem nicht überall auf der Welt so, und insbesondere in Afrika gibt es in zahlreichen Ländern keine nennenswerte Buchproduktion, keine Massnahmen zur Leseförderung und in der Folge auch keine Kultur des Lesens. Dies gilt auch für Mosambik, das Land an der afrikanischen Ostküste. Nicht nur die Armutsrate, auch die Analphabetenrate ist hoch, die Bildungschancen sind für die Mehrheit der Bevölkerung gering.
Zukunftsperspektiven für Jugendliche
Davon erzählen auch Marcelino, Santos und Carlitos, die für das Ausbildungsprogramm von «Die Welt in Büchern» im Juni 2016 in die Schweiz gereist sind. Sie arbeiten in Chimoio im Centro Aberto de Jesus, einer Partnerorganisation von terre des hommes schweiz. Mit handwerklichen Ausbildungsangeboten für Kinder und Jugendliche werden Zukunftsperspektiven für Kinder und Jugendliche geschaffen. Diese können durch den Verkauf ihrer Produkte aus Holz oder Textilien nicht nur ein kleines Einkommen erwirtschaften, sondern beispielsweise durch das Nähen von Schuluniformen Waisenkinder unterstützen.
Das Zentrum pflegt aber auch bewusst die kulturellen und spielerischen Aktivitäten, denn diese tragen elementar zur psychosozialen Gesundheit von jungen Menschen bei, die unter prekären Verhältnissen aufwachsen.
Marcelino, dem Gründer und Leiter des Zentrums, ist es dabei wichtig, die unterschiedlichen Kreise der Gesellschaft einzubeziehen und miteinander ins Gespräch zu bringen. Mosambiks Gesellschaft ist stark fragmentiert, soziale, politische und religiöse Spannungen sind bis heute tief verwurzelt und es gibt viel Tabus in der Gesellschaft. Mit «Die Welt in Büchern» möchte die Organisation nun eine weitere Projektkomponente einbringen, welche die Kinder und Jugendlichen in ihrem Entwicklungsprozess stärkt. «Literatur spielt eine wichtige Rolle in der psychosozialen Arbeit», ist Carlitos, der Programmkoordinator des Zentrums, überzeugt. Deshalb möchte er Wege finden, wie er den jungen Menschen in Chimoio die Welt der Literatur und des Buches näher bringen kann.
Probieren geht über studieren
«Wie kann ich ein Buch gestalten, so dass es vom Leser verstanden wird?», fragt Santos, der älteste in der Runde, am ersten Tag und trifft damit den Kern der Sache. Es folgt eine intensive Arbeitswoche, die Dolmetscherin, selbst eine Mosambikanerin, ermöglicht das vertiefte Gespräch.
Ein reich gedeckter Büchertisch bildet die Basis, bietet Stoff für intuitive Zugänge und sachliche Analysen. Im Grundsatz gilt: Probieren geht über studieren. Bereits am zweiten Tag machen die drei Teilnehmer ihre ersten eigenen Versuche, eine Geschichte in Wort und Bild zu gestalten, später in der Woche lernen sie einfache Buchbindtechniken kennen. Jeder Tag enthält neue methodische Inputs für die Konzeption und die Gestaltung, die alle von den drei Teilnehmern gleich ausprobiert werden. Und wenn der Arbeitstag nicht reicht, setzen sie sich nachts im Hotel nochmals an den Tisch, um ihre Ideen umzusetzen.
Es gibt etwas zu erzählen
Erfolgreiche Leseförderung basiert stets auf einer Vielfalt von Angeboten. Wir besuchen deshalb verschiedene Einrichtungen in Basel: Eine interkulturelle Bibliothek, eine Kinderbuchwerkstatt, eine Buchhandlung und andere mehr. Jede Station zeigt neue Aspekte auf – und macht sichtbar, dass auch in der Schweiz oft mit wenig finanziellen Mitteln, viel ehrenamtlicher Arbeit immer wieder nach neuen Ansätzen gesucht werden muss, um Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten den Zugang zu Bücher zu ermöglichen. Ob Bücherkisten auf Rädern, Sprachspiele oder selbstgemachte Stempel aus Radiergummis, die drei Besucher Staunen nicht nur, sondern entwickeln mit grosser Begeisterung Ideen, die sie in Chimoio umsetzen wollen. Die Schreinerei im Zentrum kann beispielsweise Bücherkisten für die zukünftige Bibliothek herstellen …
An Erzählstoff mangelt es nicht. Die Tradition des Geschichtenerzählens ist in Mosambik tief verwurzelt, nun gilt es, die richtige Form zu finden, damit dieser literarische Schatz nicht verloren geht und weiterentwickelt werden kann. Denn auch das ist ein Merkmal der Literatur: sie bewegt und verändert sich ständig, wie ein Spiegelbild der Gesellschaft, die sie schafft.
Am Ende der Woche präsentieren alle ein eigenes, handgemachtes Buch – und einen gemeinsam erarbeiteten Projektplan für eine erste Projektphase im Centro Aberto de Jesus. Die Ziele von Marcelino, Santos und Carlitos sind präzise formuliert, ihr Enthusiasmus ist gross. Sowohl Baobab Books wie terre des hommes schweiz werden bei der Umsetzung mit Rat und Tat zur Seite stehen, letztere leistet zudem ein Anschubfinanzierung für die Umsetzung von Projektaktivitäten. Die drei Männer packen ihre Bücher und das Arbeitsmaterial sorgfältig ein und treten ihre Heimreise an. Sie haben wahrlich etwas zu erzählen zuhause.
Nicht immer läuft es wie erhofft …
Es war geplant, im Rahmen dieses Projektes die Vertreter aus Mosambik mit jenen unseres Projektpartners in der Demokratischen Republik Kongo zusammenzubringen. Wir erachten den Süd-Süd-Austausch als zusätzliche Bereicherung für den Arbeitsprozess und für die Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Identität – und den zahlreichen Spielarten der erzählenden Literatur. Leider konnten die nötigen Reisedokumente für die Gäste aus dem Kongo aber nicht rechtzeitig bereitgestellt werden, so dass wir die geplante Zusammenarbeit mit der Kooperative Bidiep-Bidiep aus Kamutanga in der Provinz West-Kasai nochmals verschieben müssen.
Der Kooperative Bidiep-Bidiep gehören rund 50 Schulen in 90 Dörfern an. Die Initiative von Pfarrer Joseph Kalamba, einem Kongolesen, der während 15 Jahren in der Schweiz gelebt hat, hat im abgeschiedenen Südwesten des Landes Aussergewöhnliches zustande gebracht. Mit der Hilfe von finanziellen Beiträgen aus der Schweiz wurden Krankenstationen, Wohn- und Schulhäuser gebaut und anschliessend in die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen investiert. Es folgten die Einrichtung von Landwirtschafts- und Berufsschulen, sowie das Angebot von Lehrgängen in handwerklichen Berufen. Nun ist auch noch eine staatlich anerkannte Universität hinzugekommen.
Es ist unter schwierigsten Bedingungen viel erreicht worden, mitten in diesem Land, das von Korruption, Kriegen und Misswirtschaft gebeutelt ist. Was in der Kooperative noch fehlt, ist nach Aussage von Pfarrer Joseph Kalamba, eine aktive und lebendige Lesekultur. Deshalb soll mit der Projektkomponente «Die Welt in Büchern» nun ein Bewusstsein entstehen, wie wichtig das Lesen und Schreiben für die Entwicklung junger Menschen ist. Und wie bereichernd und identitätsstiftend die Pflege der eigenen literarischen Tradition ist – sei sie mündlich oder schriftlich.
© 2016 Baobab Books
Text: Sonja Matheson
Fotos: Pablo Wünsch Blanco, Manuela Vonwiller, Sonja Matheson