Als das Buch eine Idee war
Kinderbücher gibt es auf der Welt viele. Jene von Baobab Books müssen etwas Besonderes leisten: Eine lokal verankerte Geschichte so authentisch und gleichzeitig so universal zu erzählen, dass junge Leserinnen und Leser auch in unseren Breitengraden daran anknüpfen können. Dazu arbeitet Baobab Books oft intensiv mit Autorinnen und Autoren zusammen, und manchmal vergehen Jahre, bis ein Projekt realisiert werden kann. Einen außergewöhnlichen Weg hat auch «Als die Sonne ein Kind war», ein Bilderbuch nach einem Mythos der Tzotzil-Maya aus Chiapas, hinter sich. Es ist ein Gemeinschaftswerk über Kontinente und Kulturen hinweg.
Fast hätte ich es übersehen, das ungewöhnliche Buch. Es war 2008, als ich auf der Kinderbuchmesse in Bologna auf ein etwas sperriges, offensichtlich handgemachtes Buch am Stand der mexikanischen Verlag stieß. Es stammte aus der Werkstatt Taller Leñateros in Chiapas. Das kunstvoll illustrierte und eigenwillig gestaltete Buch basiert auf einem Lied der indigenen Tzotzil-Maya und ist in eine Buchdecke von Papier aus Pflanzenfasern gebunden.
Reise an den Ursprung der Geschichte
Einige Monate später lernte ich durch Zufall die Gründerin von Taller Leñateros kennen, Ámbar Past. Sie war ihrerseits begeistert von der Idee und vom Programm von Baobab Books, und im Gespräch entstand der Gedanke einer Zusammenarbeit. Danach vergingen aber nochmals mehrere Jahre, bis mich im Herbst 2011 eine E-Mail von Ámbar erreichte: Die ersten Bildentwürfe für ein Bilderbuch – faszinierend, außergewöhnlich in ihrer Leuchtkraft und Symbolik. Die Geschichte sollte von NeNe handeln, einem Jungen mit Zauberkräften. Der Zufall wollte es, dass ich bereits eine Reise an die Buchmesse in Guadalajara in Mexiko geplante hatte und so machte ich mich auf den Weg nach San Cristóbal de las Casas im Hochland von Chiapas, um mit den Autorinnen gemeinsam am Buch zu arbeiten.
Bittere Armut, reiche Traditionen
Wir trafen uns in den Räumen der Kooperative Taller Leñateros, und ich fuhr ins Dorf Chamula, dem Wohnort von Maruch Mendes Peres. Wir führten einen intensiven Dialog über Details im Text, über Herausforderungen bei der Übersetzung, das Format des Buches … Und Maruch erzählte von der Tradition der Tzotzil und von der heutigen Situation der Indigenen in Mexiko. Es gibt unterschiedliche Ethnien in Chiapas, die Mehrheit der Indigenas in der Gegend um San Cristóbal de las Casas gehören den Tzotzil an, welche direkte Nachfahren der Maya sind.
Einst eine Hochkultur, leben die meisten Tzotzil-Maya heute in bitterer Armut und müssen für ihre Rechte kämpfen. In ihren Gemeinden fehlt jegliche Infrastruktur und die schlechte Wasserqualität ist Ursache vieler Infektionskrankheiten. Die Tzotzil, die nicht in die Städte abgewandert sind, bauen auf ihren bescheidenen Feldern in harter Arbeit und oft ohne Wasser Gemüse und Früchte an, manche verkaufen Kunsthandwerk an Touristen. Im Gegensatz zu vielen anderen indigenen Kulturen konnten sie aber ihre Sprache und viele ihrer Traditionen bewahren.
Von der mündlichen Erzählung zum Buch
Auch Maruch Mendes Peres ist eine Tzotzil-Maya. Sie hat für dieses Buch die Geschichte von NeNe, dem Sonnenkind, in ihrer Muttersprache erzählt. Die mündliche Überlieferung dauerte vier Stunden und enthielt viele Details, rhythmische Wiederholungen und auch Gesänge. Ámbar Past, eine gebürtige Amerikanerin, die seit vier Jahrzehnten in Mexiko lebt und fließend Tzotzil spricht, hat danach die Geschichte adaptiert und in einer verkürzten Fassung für Kinder aufgeschrieben. Zunächst auf Tzotzil, dann in spanischer Übersetzung.
Die Idee für dieses Buchprojekt ging von Tamana Araki aus. Einer japanischen Künstlerin, die sich mehrfach in Mexiko und insbesondere in Chiapas bei den Tzotzil aufgehalten hat. Als Araki feststellte, dass es trotz des unerschöpflichen Geschichtenreichtums kein Kinderbuch aus der Kultur der Tzotzil gibt, regte sie bei Ámbar Past und Maruch Mendes Peres dieses Projekt an. Gemeinsam haben sie das nun vorliegende Werk Als die Sonne ein Kind war geschaffen. Tamana Araki hat die Illustrationen zur Geschichte gezeichnet. Ámbar Past erinnerte sich wiederum an unser Gespräch vor vielen Jahren.
Die Geschichtenerzählerin
Maruch Mendes Peres ist eine eindrücklich Frau, stets mit einem Lachen im Gesicht ist sie viel unterwegs und hat immer etwas zu tun. In welchem Jahr sie geboren wurde, weiß sie nicht genau, es muss vor rund 50 Jahren gewesen sein, meint sie. In ihrem Dorf Chamula, nahe von San Cristóbal de las Casas, ist sie eine respektable Person. Sie war nie verheiratet, hat aber 8 Kinder adoptiert, die Jüngsten leben noch heute bei ihr im Haus. Sie hat soziale Projekte in der Gemeinde ins Leben gerufen, als Hebamme und Heilerin gearbeitet. Und dass sie auch ihren kleinen Garten bestellt, Garn spinnt und Stoffe webt, ist für sie selbstverständlich.
Die Tzotzil leben in einfachsten Verhältnissen, das ist auch bei Maruch Mendes Peres nicht anders. In ihrem Haus gibt es keinen Wasseranschluss, keinen Strom und keine Heizung. Die Nächte im Hochland sind selbst im Sommer bitterkalt. Der Boden im Garten ist schlecht. Zwar hat die Regierung kürzlich Zäune und Wassertanks verteilt, aber es gibt kein Wasser in der Gemeinde … Wozu die harte Arbeit, einen Gemüsegarten mit Zaun anzulegen, wenn man danach nicht wässern kann? Das fragen sich viele, das Material liegt im Dorf meist ungenutzt am Straßenrand.
Ein Dialog zwischen Kontinenten
Maruch Mendes Peres ist Mitautorin verschiedener Bücher mit Gedichten, Gesängen und Texten der Tzotzil. Das nun ein Kinderbuch entsteht, das freut sie außerordentlich, denn es ist auch eine Anerkennung für die marginalisierten Tzotzil-Maya.
Das ist im Besonderen der Verdienst von Ámbar Past. Sie hat Taller Leñateros vor vielen Jahrzehnten ins Leben gerufen, um für die indigene Gemeinschaft eine Einkommensquelle zu schaffen. Hier wird Papier aus Pflanzenfasern geschöpft, gestanzt, gedruckt, hier wird erzählt und geschrieben.
Ámbar Past hat in früheren Jahren im Urwald mit den Tzotzil gelebt, und nicht nur deren Sprache sondern auch ihre Kulturtechniken und Riten erlernt. Past sagt, dass sie manchmal vergisst, dass sie in Amerika geboren wurde, so sehr ist sie in das Leben der Maya eingetaucht. Mit Maruch Mendes Peres pflegt sie eine enge, fast schwesterliche Freundschaft. In San Cristóbal wird sie an jeder Straßenecke gegrüßt. Ihr Haus am Rande der Stadt ist umgeben von einem Gemüsegarten, ihre große Küche ist der Treffpunkt für zahlreiche Freunde. Alle bringen etwas mit, irgend jemand kocht immer, nach der Mahlzeit gehen alle wieder ihrer Arbeit nach. Nur die Katzen legen sich schlafen. Eine hat einen japanischen Namen erhalten: Arigato – Danke.
Auch ich bedanke mich und mache mich auf den langen Heimweg nach Europa. Im Gepäck die Gewissheit, dass Baobab den kaum beachteten Tzotzil mit diesem Buch eine Stimme geben möchte. Ein Jahr später, nach vielen Nachrichten und Postsendungen zwischen Mexiko, Japan und der Schweiz ist es soweit: Die seit Jahrhunderten in stets neuen Versionen überlieferte Maya-Legende von der Schaffung der Gestirne liegt in deutscher Übersetzung von Jochen Weber in der Reihe Baobab vor: Als die Sonne ein Kind war.
Sonja Matheson, August 2012
© Baobab Books